Zur Praxisrelevanz von Primärpräventionsprogrammen gegen sexuellen Kindesmissbrauch

Miriam K Damrow

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Miriam K Damrow, Zur Praxisrelevanz von Primärpräventionsprogrammen gegen sexuellen Kindesmissbrauch (27.04.2024), Beltz Juventa, 69469 Weinheim, ISSN: 0342-2275, 2009 #4, S.261

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Beschreibung / Abstract

Bei der Entscheidung für oder auch gegen ein Primärpräventionsprogramm gegen sexuellen Kindesmissbrauch steht die Praxisrelevanz für die Durchführenden oft an erster Stelle, da folgende Fragen der Entscheidungsfindung dienen: Welchen (Präventions-)Nutzen bringt das Programm, welchen Anforderungen wird es gerecht und inwieweit erfolgt eine Rückbindung an die Praxis? -- Es werden in Bezug auf den Inhalt also Handlungsstrategien auf ihr praktisches Erfolgspotential, d.h. präventive Wirkung, geprüft. Dabei wird traditionellen institutionellen Primärpräventionsprogrammen eine hohe präventive Wirkung zugeschrieben, insbesondere jenen Programmen, die Kinder lehren, sich zu wehren, und unter Slogans wie "Mein Körper gehört mir", "Ja zum Nein" auf körperliches Selbstbestimmungsrecht der Kinder fokussieren, d.h. Kinder lernen, ihren sexuellen Missbrauch zu verhindern. Dazu zählen Programme oder Theaterstücke wie "Ganz schön blöd" von Zartbitter e.V., "Mein Körper gehört mir" von der Theaterpädagogischen Werkstatt Osnabrück als auch das Präventionsprogramm von ESTAruppin. -- Institutionelle Primärpräventionsprogramme sind als "Empowerment"-Präventionsprogramme mehrheitlich an potentielle Opfer gerichtet, also als parteiliche Prävention ausgerichtet. In diesen Empowerment-Präventionsprogrammen werden Inhalte vermittelt, die sich an der Überwindung des strukturellen Machtungleichgewichts sowohl zwischen Männern und Frauen als auch zwischen Erwachsenen und Kindern orientieren. Daher werden in diesen Primärpräventionsfertigkeiten Handlungsanweisungen und Konzepte vermittelt, wie Kinder und Jugendliche sexuellen Missbrauch durch eigenes Handeln verhindern oder beenden können. -- Problematisch erscheinen dabei folgende Aspekte: Die Auffassung von Prävention als Handlungsprinzip, als Vorbeugen möglicher Risiken wegen der Kontingenz der Zukunft zeigt bereits an dieser Stelle Ambivalenzen auf (Bröckling 2008). Das Risiko eines möglichen Sexuellen Missbrauchs wird so als Selbstattribution aufgefasst (Luhmann 1991), so dass in logischer Folge auch die zukünftigen Opfer dafür Sorge tragen müssten, diesem Risiko zu entgehen. Die Verantwortung für die Prävention wie auch die Verantwortung für die Beendigung der Tat wird damit den potentiellen Opfern zugeschrieben: Versagen präventive Bemühungen, liegt die Verantwortung dafür beim Opfer und erscheint als neue Form der alten Strategie des "Blame the victim". Der Widerspruch, gerade von denjenigen zum Widerstand ermutigt zu werden, die sich in der strukturellen Machtposition über den Opfern befinden, wird dabei noch gar nicht angesprochen, gar gelöst (Tharinger et al. 1988). So steht bei der Beurteilung der Praxisrelevanz der präventive Inhalt im Fokus, dem in opferorientierten Empowerment-Primärpräventionsprogrammen a priori eine präventive Wirkung unterstellt wird. Unhinterfragt wird dabei von der Annahme ausgegangen, diese Primärpräventionsprogramme seien per se erfolgreich, da sie präventiv wirken (wollen). Diese präventive Wirkung ist das angestrebte Ziel: Sexueller Kindesmissbrauch wird durch Anwendung der erlernten Fertigkeiten verhindert. Ob und wie diese Fertigkeiten und Konzepte real sexuellem Missbrauch von Kindern vorbeugen, zeigt der "Alltagstest": die Praxisrelevanz, weil Inhalte und Fertigkeiten vermittelt werden, von denen angenommen wird, dass sie praktisch im Alltag anzuwenden sind. -- Demnach müssen sich Programme, die der Primärprävention sexuellen Kindesmissbrauchs dienen, auch danach beurteilen lassen, welche sachlichen Informationen zum Thema sie tatsächlich geben, wie relevant die behandelten Themen sind, in welchem Maße die erlernten Fertigkeiten und Konzepte auf die reale Lebenswelt übertragbar sind und inwieweit die erlernten Fertigkeiten mit dem angestrebten Ziel der präventiven Wirkung korrespondieren. -- Die inhaltlichen Bestandteile von Primärpräventionsprogrammen, die sich an Kinder (und Jugendliche) wenden, werden daher auf ihre Praxisrelevanz untersucht und daraus eine Checkliste abgeleitet, in der die wesentlichen Punkte zur Beurteilung der Praxisrelevanz zusammengefasst sind. --

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