"Hard to reach"-Klientel - (Sozial-)Therapie 2. Klasse?

Zur Vernachlässigung von Menschen mit komplexen Multiproblemen

Jürgen Beushausen

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Jürgen Beushausen, "Hard to reach"-Klientel - (Sozial-)Therapie 2. Klasse? (29.03.2024), Beltz Juventa, 69469 Weinheim, ISSN: 0342-2275, 2014 #1, p.20

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Description / Abstract

Klinische Sozialarbeit sieht ihre Zuständigkeit in der Arbeit mit dem oftmals sozial stark beeinträchtigten und psychisch schwerkranken Menschen. Diese Menschen, die gegenüber sozialen Diensten häufig misstrauisch sind, gelten aus der Perspektive der psychosozialen Dienste in vielen Fällen als "schwer erreichbar" - hard to reach. Die Sozialarbeit muss sich hier mit komplexen psychosozialen Problemen professionell auseinandersetzen. Sie beschäftigt sich beispielsweise mit den Folgen sexueller und physischer Gewalt gegen Kinder und Frauen, Folgen von Flucht und Migration, chronisch somatischen und psychischen Leiden von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, Alkoholismus und Drogenmissbrauch, verschiedenen Formen sozialer Abweichung, psychiatrischen Alterserkrankungen sowie den Folgen, die diese Störungen und Krankheiten für die Familien und ihre Angehörigen haben. Diese Klienten, die einer multiperspektivischen Betrachtung und entsprechender umfassender Interventionen bedürfen, erreichen oft nur sehr erschwert Zugang zur klassischen Psychotherapie. Stattdessen erhalten sie verschiedenste Hilfen durch psychosoziale Fachkräfte. Es zeigt sich, dass der Unterstützungsbedarf dieses Klientels durch das ärztliche Hilfesystem und durch Psychotherapeuten alleine nicht gedeckt wird. Es hat sich ein "grauer Bereich" gebildet, in dem vielfach andere Professionen, hier insbesondere Sozialarbeiter, diesen Bedarf abdecken und auch therapeutische Aufgaben übernehmen, wenn diese oftmals auch anders bezeichnet werden.

Die Bezeichnungen dieser Interventionen reichen von Betreuung, Unterstützung, Soziotherapie, Sozialtherapie, Beratung, Psycho-soziale Behandlung bis zur Therapie. Daher stellt sich die Frage, wie sich diese Kommunikationsformen im Kontext unterschiedlicher Funktionssysteme unterscheiden lassen, d.h., welcher Akteur welche Unterscheidungen auf dem Hintergrund der jeweiligen Interessen trifft. Die von mir gewählte Überschrift bezieht sich somit auf zwei Aspekte. Sie kennzeichnet zum einen die Situation, dass das Klientel der Sozialen Arbeit einen erschwerten Zugang zu einer "Therapie erster Klasse", einer Psychotherapie, erhält und zum zweiten, dass in diesem Kontext seit vielen Jahren Professionen wie die Sozialarbeit für dieses Klientel beraterisch und (sozial-) therapeutisch tätig sind, diese Tätigkeit jedoch anders benennen.

Dieses Problem ist nicht neu, Geißler-Piltz stellte bereits 2004 die Frage, ob sich die Sozialarbeit von den langen "Magddiensten für die Medizin" und einigen heftigen, jedoch nicht glücklich verlaufenden Affären mit unterschiedlichen Psychotherapiemethoden, in denen sie bis zur Selbstaufgabe um Anerkennung rang, nicht endlich verabschieden möchte. Eine Erklärung für diese Situation findet Geißler-Piltz (2004) in der Historie. Die Therapiebewegung in den psychosozialen Arbeitsfeldern der 1970er und 1980er Jahre übernahm, so die Autorin, unkritisch immer neue, psychotherapeutische Methoden als Reaktion auf das handlungsmethodische Vakuum, welches die Methodenkritik hinterlassen hatte. Dies hinterließ in der Sozialen Arbeit nachhaltige Spuren einer Verunsicherung des methodischen Selbstbewusstseins, denn viele Sozialarbeiter/innen fühlten sich offenbar angesichts der Not und Hilflosigkeit der komplexen Probleme ihrer KlientInnen alleingelassen.

In diesem Beitrag, der keine grundlegende wissenschaftliche Auseinandersetzung leisten kann, möchte ich mich in einer Reihe von Aspekten mit diesem umfangreichen Thema beschäftigen. Einführend wird auf die Frage eingegangen, wer eigentlich Psychotherapie erhält, um als nächstes die Frage zu erörtern, wie aus einer systemtheoretischen Perspektive die unterschiedliche Bewertung des sozialarbeiterischen und therapeutischen Handels anhand von Beispielen erklärt werden kann. Im Anschluss wird gefragt: Was sind die Wirkfaktoren psychosozialer Tätigkeiten? Im Weiteren wird erörtert, auf welche Konzepte die Soziale Arbeit zurückgreifen kann, um ihre Stärken deutlich zu machen. Abschließend ist darzulegen, was dies für die Soziale Arbeit und ihre Identitätsfindung bedeutet.

Das Anliegen dieses Beitrages ist, die Bedeutung Sozialer Arbeit hervorzuheben und die Diskussion über ihre Identität in Abgrenzung zu anderen Professionen erneut anzustoßen.

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